Kindliche Handlungskompetenzen in Krisenzeiten
Kinder sind soziale Akteure, die in der Lage sind, auf ihre Umwelt einzuwirken und diese Rolle auch verantwortungsbewusst zu übernehmen. Sie haben eigene Entscheidungs- und Handlungskompetenzen (children’s agency). Ein deutsch-israelisches Forscherteam von der Hebräischen Universität Jerusalem möchte jetzt herausfinden, wie die kindliche Sicht auf die sie umgebende Pandemie aussieht und wo Kinder in einer Krisenzeit ihre Rolle und Verantwortung sehen. An der international vergleichenden Studie nehmen auch die Kölner rainbowtrekkers teil.
Initiator der Studie ist Perach Midbar Alter, der Leiter der Jerusalemer Universitätskita und Doktorant an der dortigen Paul-Baerwald-Schule für Sozialarbeit und Wohlfahrt. Die Studie basiert auf seinen Vorarbeiten aus der Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. Bereits damals hatte er die Kinder seiner Kita interviewt und die Ergebnisse in der deutschsprachigen Zeitschrift „Betrifft Kinder” (09/2020) veröffentlicht.
Die Studie wird u.a. von Prof. em. Dr. Heidi Keller (Osnabrück/Jerusalem) betreut. Alter und Keller bemängeln in ihrem Artikel, dass die von den Behörden in Deutschland wie Israel herausgegebenen Informationen zum Umgang mit der Pandemie sich nur an Erwachsene richteten. Kinder würden aus einer Defizitperspektive wahrgenommen, die Schwierigkeiten hätten, sich in der unsicheren Situation zurechtzufinden, deren Entwicklung stocke oder sogar Rückschritte mache.
So habe auch z.B. die deutsche Gesellschaft für Psychologie ein Dossier zur Situation der Kinder und Jugendlichen während der Coronakrise veröffentlicht. Darin ginge es ebenfalls ausschließlich um Defizite, denen Kinder ausgesetzt seien – soziale Isolation, Trennung von den sozialen Kontakten, häusliche Probleme und fehlende Bildungsangebote.
An dieser Schwerpunktsetzung werde deutlich, welches Bild vom Kind den öffentlichen Diskurs bestimme: Es sei das von Erwachsenen konstruierte Bild vom schwachen und hilfsbedürftigen Menschen. Kindliche Entscheidungs- und Handlungskompetenzen würden bei solchen Fragestellungen nur marginal berücksichtigt. Selbst wenn Kinder nach ihrer Meinung gefragt würden, so würden ihre Antworten häufig anhand von Konzepten interpretiert, die Erwachsene als wichtig für Kinder erachten.
Diesen defizitorientierten Ansätzen will Perach Midbar Alter einen positiven Ansatz gegenüber stellen, der die Entscheidungs- und Handlungskompetenzen der Kinder in den Mittelpunkt stellt. Die Aussagen der Kinder, die er interviewt hat, machen deutlich, dass die Kinder ihren Platz in der Familie auch in Pandemiezeiten als bedeutend, aktiv und verantwortlich wahrnehmen.
Die Kinder sprechen in den Interviews darüber, wie sie sich als Akteure verstehen und wie sie als solche handeln. Sie zeigen dabei ihre Kompetenz, Veränderungen in ihrer Umwelt zu bewirken, und zwar sowohl konkret durch Handlungen als auch durch Reflexion. Aus den Interviews wurden aus Sicht der Wissenschaftler vier Schlüsselkompetenzen der Kinder deutlich:
- Fähigkeit: Es wurde offensichtlich, dass die Kinder auch in Krisenzeiten die Kompetenz haben, zu erkennen, was gut für ihre Familie ist und wissen, wie sie das in die Tat umsetzen können. Das bedeutet: Kinder sind aktiv an der Qualität der familiären Situation beteiligt und übernehmen Initiative.
- Verantwortung: Die durchgeführten Interviews haben deutlich gemacht, dass sich die Kinder nicht nur ihrer Handlungskompetenz bewusst sind, sondern auch der Verantwortung, die damit einhergeht, für das, was zu Hause passiert, für die Beziehungen in der Familie und ihre Gesundheit.
- Initiative: In den Interviews wurde anhand verschiedener Beispiele deutlich, wie Kinder Initiativen entwickeln, von denen sie überzeugt sind, dass diese ihnen helfen werden, besser durch die Krise zu kommen.
- Bewusstheit: Aus den Interviews mit den Kindern spricht ein klarer Bezug zur Realität. Die Kinder sind sich der Situation bewusst. Sie nehmen die Existenz ihrer Familien und ihren Platz darin wahr und sind sich etwaiger Gefahren und Einschränkungen bewusst.
Die israelischen Forscher fassen zusammen: Natürlich müssen Kinder in der Pandemie beschützt werden. Kinder können und wollen aber auch selbst beschützen. Die Gespräche mit den Kindern über die Zeit der Corona Pandemie haben deutlich gemacht, dass sie in der Lage sind, Initiative und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Wenn wir Kindern diese Möglichkeiten im Alltag verwehren, nehmen wir ihnen einen wichtigen Teil ihrer Kindheit.
Den ausführlichen Bericht können Sie hier bestellen. Unseren Mitarbeitern steht der Text im Intranet zum Download zur Verfügung.